Testosteron – Fluch oder Segen?
Die Leichtathletik-Weltmeister- schaften in London sind Geschichte. Gelegenheit für eine Revanche unter den Athletinnen und Athleten bietet jeweils das prestigeträchtige Diamond-League-Meeting Weltklasse Zürich. Schon öfters wurden frisch erkorene Weltmeisterinnen und Weltmeister in Zürich von der Konkurrenz in die Schranken gewiesen. Nicht die 800m-Lauf-Überfliegerin Caster Semenya. Sie hatte dieses Jahr nichts zu fürchten. Locker überragend brachte sie den Sieg nach Hause und in diesem Zusammenhang gibt es wohl kaum ein traurigeres Thema in der Frauenleichtathletik als die Diskussionen um Intersexualität. Das bedeutet, dass eine Per- son nicht eindeutig als weiblich oder männlich eingeordnet werden kann. Semenya ist in den letzten Jahren Symbol dieser Thematik geworden. Aktuell starten rund ein Dutzend Athletinnen mit einer intersexuellen Konstellation.
Wenig überraschend ist die Tatsache, dass je höher der Testosteronspiegel einer Frau ist, desto grösser ist ihre Leistungsfähigkeit. Seit die Südafrika- nerin keine hormonsenkenden Präpara- te mehr einnehmen muss, ist sie wieder Königin auf den beiden Bahnrunden. Einige Athletinnen und natürlich auch andere Betroffene monieren, dass Frau- en mit solch hohen Werten nicht in der Damenkategorie starten dürfen, da es nicht fair sei.
Auf den ersten Blick bin ich einverstanden damit. Man muss aber ehrlicherweise auch zugeben, dass diverse andere Spitzensportlerinnen von Natur aus Vorteile mit sich bringen. So spielt die Körpergrösse bei etlichen Disziplinen eine gewinnbringende Rolle. Müsste man diese Athletinnen auch sperren? Kommt dazu, dass sich unter den Kritikerinnen diverse Frauen Leistungsvorteile verschafft haben – und das nicht gerade ehrenhaft. Einigen konnte Doping nachgewiesen werden und andere werden fast sicher noch überführt. Nun, «in dubio pro reo», wie man so schön sagt. Ich finde es tragisch, dass Menschen so krass öffentlich diskriminiert werden und über ihre intimsten Gegebenheiten Auskunft geben müssen. Wie erniedrigend ist es, wenn man gegenüber Medien gar erklären muss, in welcher Position man pinkelt?
Die Mutter von Semenya hat kürzlich gesagt: «Mein Kind ist ein Mädchen.» Die Athletin selber möchte einfach nur als Frau wahrgenommen werden und will niemand sein, der sie nicht sein will. Folglich möchte sie auch nicht hormonell behandelt werden. Das ist die menschliche Tragödie, die hinter den unglaublichen Leistungen einer Topathletin stehen. Nicht minder tragisch ist der Sachverhalt, dass sich weibliche Athletinnen mit einem sogenannt «normalen» Hormonhaushalt niemals in Wettkämpfen gegenüber Intersexuellen durchsetzen können, jedenfalls nicht in Disziplinen, in denen die Leistung stark von der Schnelligkeit abhängig ist.
Wem widerfährt mehr Unrecht? Wie löst der internationale Leichtathletikverband (IAAF) dieses Problem? Sport- pädagogin Marianne Meier hat kürzlich im «Bieler Tagblatt» dazu Stellung genommen und vertritt die Meinung, dass ein Verband ein solch komplexes Thema nicht im Alleingang angehen kann. Es müssen zwingend Fachpersonen, Betroffene, Sponsoren und Menschenrechtsorganisationen beigezogen werden. Ich teile ihre Meinung in diesem Bereich. Bis anhin hat die IAAF mindestens in allen menschlichen, ethischmoralischen Belangen kläglich versagt und war total überfordert. Sowohl gegenüber den Frauen mit natürlich überhöhten Testosteronwerten als auch gegenüber den Frauen mit Normhormonwerten.
Es wird schwierig, eine gerechte Lösung zu liefern und die Reglemente des Sports konnten es bis anhin nicht. Möglicherweise wird nun die Studie, welche beweist, dass erhöhte Testosteronwerte bei Frauen zu einer Leistungssteigerung beitragen, der Gradmesser. Als betroffene «Normathletin» wäre ich wohl froh und könnte endlich auf einen Titel hof- fen. Absolut katastrophal und eine menschliche Tragödie ist aber die Kehrseite der Medaille. Werden Frauen, welche von Natur aus einen hohen Testosteronwert haben, nun aus dem Spitzensport ausgeschlossen? Wäre dies richtig oder falsch?