Andrea Zryd -
Wir zählen keine 100 Tage mehr bis zum Start der verschobenen Olympischen Spiele in Tokyo. Krampfhaft versuchen die politischen Machtinhaber in Japan und das IOC (International Olympic Committee) den wütenden, aufbrausenden Widerstand gegenüber der Durchführung schön zu lächeln. Zwischenzeitlich sind ca. 70% - 80% der betroffenen Bevölkerung gegen die Austragung der Olympischen Spiele. Auch in anderen Nationen denken viele gleich wie ein Grossteil der japanischen Bevölkerung - aber so richtig etwas zu sagen, traut sich keiner. Ich spekuliere, dass die Spiele noch vor der rituellen Entflammung des olympischen Feuers abgesagt werden. Das ist meine ganz persönliche Vermutung, liebe Leserinnen und Leser. Sollte meine Vermutung Realität werden, tut es mir im Herzen für all die Athletinnen und Athleten weh und ich anerkenne, wie hart und konsequent unsere Schweizerinnen und Schweizer trainieren, um unsere Nation ehrenvoll und würdig zu vertreten. Sie versuchen mit aller Macht den Fokus auf den populären, milliardenschweren Grossanlass aufrecht zu erhalten. Dafür haben sie viele Jahre in Trainingsstunden investiert und auf unglaublich viele ganz alltägliche Dinge verzichtet, um unter dem Siegel der fünf Olympischen Ringe kämpfen zu dürfen. Doch wollen wir unsere Nation wirklich in ein Land entsenden, wo die Forderungen nach einer sofortigen Absage immer lauter und deutlicher werden? Die grassierende Angst, dass Covid-Mutanten Japan oder gar die Welt erneut in Verzweiflung stürzen ist berechtigt. Ein ominöser Brief, unterzeichnet von 20 Professoren aus Japan, richtet sich konkret an die Öffentlichkeit und fordert zum «Boykott der Solidarität» auf. Sie hoffen, dass eine starke Nation mit sportlichen Leistungsträgern und Leistungsträgerinnen, ihr olympisches Team zu Hause lässt und so eine Kettenreaktion unter anderen, teilnehmenden Nationen auslöst. In der Zwischenzeit trauen sich auch FunktionärInnen und AthletInnen ihre kritischen Stimmen öffentlich Kund zu tun. Die japanische Toptennisspielerin Naomi Osaka hat es mit durchdringender Ehrlichkeit auf den Punkt gebracht: sie sei Athletin und wolle unbedingt in Tokyo spielen aber sie sei auch ein Mensch, der die Pandemie und die Sorgen und Unsicherheit der Bevölkerung ernst nehme. Die Vorfreude auf sportliche Bestleistungen ist fast stoisch gedämpft. Wie würden sie entscheiden, liebe Sportfans?
Eine nicht ganz einfache Frage in der moralischen Mangel zwischen Pro und Contra. Sport versus menschliches Schicksal? Das olympische Gedankengut ist längst nicht mehr so edel. So wissen wir auch, dass die Spielvergabe an Tokyo höchst korrupt war und dass eine riesige Geldmaschinerie hinter dem Sommerkoloss lechzt. Hätte ich keinen direkten Draht zu qualifizierten Athletinnen und Athleten, würde mir die Antwort viel leichter fallen. So ist es eine harte Zerreissprobe, dem Verstand nachzugeben. Denke ich an die Katastrophe von Fukushima zurück, wäre Japan etwas Ruhe gegönnt. Die Menschen wollen die Spiele nicht und sie wollen endlich wieder ohne Sorgen leben können. Mit der lauernden Gefahr, das Virus nicht unter Kontrolle zu bringen, sinken auch die Emotionen für Olympische Spiele. In Japan sind keine 5% der Bevölkerung geimpft, was ebenso für den Missstand des pazifischen Inselstaates spricht. Werden die Spiele durchgepaukt, wird das ohne Publikum geschehen, mit sehr hohen Covid-Hürden und wohl wenig Emotionen. Eine unbeschreibliche Tristesse, die den Spitzensport seiner Faszination beraubt. Glänzt die Goldmedaille gleich wie eine Errungene an «normalen» Olympischen Spielen? Ich weiss es schlicht nicht und ich kann nicht genug erwähnen, wie furchtbar eine Absage für die Athletinnen und Athleten wäre. Aber könnten die Folgen bei einer Durchführung fatal sein? Möglich - vielleicht würde auch alles ganz harmlos ablaufen. Wollen wir wirklich spekulieren? Ich schicke sie, liebe Interessierte mit dieser Frage ins Wochenende und zitiere die Langstreckenläuferin Hitomi Niiya: «Um ehrlich zu sein, denke ich, dass das Leben wichtiger ist als die Olympischen Spiele.»